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Kurz kommentiert: Einfach-teilhaben.de im Usability-Test mit Menschen mit Behinderungen

Die Agentur Aperto hat für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Usability-Test mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt und die Webseite einfach-teilhaben.de aufgabenorientiert benutzen und bewerten lassen. Die Ergebnisse wurden nun online präsentiert: Einfach-teilhaben.de im Usability-Test mit Menschen mit Behinderungen.

In unserer barrierefreien Arbeit fehlen uns immer praktische Daten. Der herkömmliche Kontext ist ja, dass wir als Entwickler die ersten Nutzer sind, dann geht noch der Controller ran, danach der Kunde und irgendwann nach Launch der eigentliche Nutzer. Hat der Kunde noch Feedbackschleifen eingebaut, erhalten wir wieder von den Nutzern Rückmeldungen, wenn sie mit der Benutzung der Webseite Schwierigkeiten haben. Das hört sich oftmals dann eher sehr allgemein an, unsere Aufgabe ist es dann, diese allgemeinen Aussagen zu überprüfen, die Schwierigkeiten zu finden – das heißt immer so schön debuggen -, den Aufwand zu schätzen und dann wieder in die Entwicklungsschleife einzubinden. Das ist quasi der 08/15 Prozess bei den meisten Agenturen.

Daher bin ich immer doppelt gespannt und erfreut, wenn ich Ergebnisse von Nutzertests lesen und sie mit den bisherigen Ergebnissen, seien sie nun theoretischer oder praktischer Natur, abgleichen kann. Ich bin einerseits zufrieden mit den Ergebnissen, nicht viel neues würde ich sagen, und andererseits auch ein wenig verwirrt, warum die altgediente Schere zwischen Theorie und Praxis wieder aufgemacht wurde. Aber nun mal alles der Reihe nach.

Der Kontext des Usability-Tests

Vielleicht ist es ja allen bekannt, vielleicht dann aber wieder nicht, die Agentur Aperto ist auch verantwortlich für Design und Frontend-Programmierung des Webauftritts einfach-teilhaben.de und der Test beschränkt sich im Wesentlichen auf das Frontend. Die Umsetzung des Webauftritts ist explizit barrierefrei und auch für Menschen mit Behinderung realisiert, also ist schon ein hohes Niveau in der Umsetzung zu erwarten. Liest man sich die Informationen zur barrierefreien Umsetzung von einfach-teilhaben.de durch, dann wird klar, warum etwa im Usability-Test explizit auf WAIARIA und JAWS getestet wird. Auch wird der spezielle Fokus auf die beiden dann doch konkurrierenden Suchmöglichkeiten auf einer Seite – der generellen Suche und der Spezialsuche von Arzt und Kliniken – deutlicher. Spannend auch das Thema der Farbkontraste.

Was ich hier vorausschicken will, ist, dass man einen expliziten Vergleich zwischen den Ansprüchen der eigentlichen Umsetzung von einfach-teilhaben.de und den Ergebnissen aus dem Usability-Test ziehen kann. Im Video Noch einfacher teilhaben, das wichtige Funktionen und barrierefreie Umsetzungen des Webauftritts erklärt, wird nochmals speziell auf die guten Kontraste – vor allem auch auf die Möglichkeit, den Kontrast zu wechseln, hingewiesen, auf die unterschiedlichen Suchmöglichkeiten und, was ja besonders gut und präsent umgesetzt ist, die Videos in Gebärdensprache und die Möglichkeit, die Inhalte auch in leichter Sprache zu lesen. Wahrscheinlich werden die Ergebnisse des Usability-Tests noch umfassender dokumentiert werden und dann vielleicht vergleichender angelegt sein. Gerade damit würde sich für mich die angemahnte Lücke zwischen Theorie und Praxis schließen, wenn man die real programmierten Ergebnisse mit praktischen Nutzertests abgleicht.

Nicht viel neues aus der Praxis

Sieht man sich die angeführten Ergebnisse des Usability-Tests an, ist nicht viel neues zu lesen, fast alle Ergebnisse sind soweit bekannt. Dass eine Überschriftenhierarchie, wenn gut durchdacht und logisch, auch eine gute Nutzung bietet, dass Inhalte einer Webseite übersichtlich, einheitlich und gut strukturiert angeboten werden sollen und sich durchaus gängige und bekannte Semantik wie Summary, Listen und Zwischenüberschriften positiv bemerkbar macht und lesbarer ist, war zu erwarten. Hier stelle ich mir eher die Fragen, in wieweit die Option für Inhalte in leichter Sprache auch angenommen und genutzt wurde. In den Ergebnissen werden sie nur im Kontext der Gebärdensprachvideos erwähnt, dass es optimal sei, zusätzlich zu den Gebärdensprachvideos noch ein Inhaltsverzeichnis in leichter Sprache anzubieten.

Formulare und deren Nutzbarkeit sind ja immer noch ein heikles Kapitel. Dass dabei oftmals die Formulierung ein Pferdefuß sein kann – senden für eigentlich suchen ist auch eher suboptimal, kann aber passieren -, ist bekannt. Gerade bei komplexeren Formularen wie Arztsuchen – also Suchanfragen in komplexen, oftmals Drittanbieter-Datenbanken – kann zu nicht immer alltagssprachlich verständlichen Formulierungen führen. Hier auch wieder der Hinweis in den Testergebnissen, Komplexität aufzulösen. Das genannte Beispiel hätte auch ich falsch genutzt und schön die Schrägstriche gesetzt. 😉 Dass das erste Suchfeld – damit ist immer die generelle Suche über die ganze Webseite gemeint – möglichst weit oben und gerne im Kopf der Webseite erwartet wird, ist aus der Usability bekannt. Zu gerne werden auch merkwürdige Layoutkonstrukte generiert, nur damit die Suche ja ganz am Anfang der Seite steht. Dass mehrere Suchangebote auf einer Seite verwirren, ist nachvollzieh- und erwartbar, schließlich steigt die Komplexität der Webseite dann insgesamt gehörig. Bei der Vorschlags-Suche sollte vielleicht erwähnt werden, dass sie stark browserabhängig ist, ich müsste dafür wohl erst meine virtuelle Umgebung anwerfen. Aber klar – gerade die Suggest-Suche gehört zu jenen Features, die sogar das WCAG 2 empfiehlt.

Die diskussionsfreudigen Ergebnisse

Vorsichtiger sollte man jedoch an jene Ergebnisse herangehen, die sich so in der Form nicht wirklich verallgemeinern lassen oder zumindest diskussionswürdig sind. Anschauliche Wissensvermittlung ja, aber alles jetzt auf Videos zu verlagern, weil es einfach sei, einen Play-Button zu drücken, halte ich für eher wenig praxisnah. Das Zitat des Nutzers bezieht sich dabei auf das Lesen langer Texte. Ich stelle mir gerade vor, lange Text ins Videoformat zu transferieren. Alles möglich, keine Frage, aber weder robust in die Zukunft noch sinnvoll. Videos können ergänzen, aber sollten nicht ersetzen. Sich auf den Back-Button zu 100% zu verlassen, mag ja eine gute, alte Angewohnheit der Nutzer sein, aber ich würde hierzu lieber mehr Praxisdaten haben wollen, bevor man hochdynamische Seiten wieder so runterregelt, dass der Back-Button auch wieder auf die Vorseite zurückführt. Irgendwie erinnert mich das an die Anfangszeiten des Webs und der PHP-Programmierung …

Dass der Screenreader in seiner aktuellen Version nicht immer Standard ist, ist bekannt. Aber der Weg kann doch nicht sein, dass man auf WAI-ARIA Landmarks verzichtet, weil einige Nutzer noch JAWS 4 haben. Die Darstellung der Testergebnisse erwecken etwas ungeschickt jedoch den Eindruck, wir sollten uns jetzt wieder mehr nach unten hin orientieren, dabei ist ein Einsatz von Landmarks nach unten ja kompatibel, der alte Screenreader ignoriert das einfach. Ein generelles Verdikt gegen den alleinigen Einsatz von WAI-ARIA auszusprechen, ist derzeit doch gar nicht notwendig. Ich denke, niemand setzt WAI-ARIA derzeit ausschließlich ein, die Frage ist doch, ist WAI-ARIA dafür überhaupt gedacht?

Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, mit welchen Screenreadern wurde getestet und sind Opensource-Reader wie NVDA überhaupt eine Option für die Nutzer? Gerade bei so einer spezialisierten Webseite wie einfach-teilhaben.de wäre die Nutzung von Screenreadern interessant, vielleicht wäre eine Umfragemöglichkeit da spannend. Wir haben ja für den deutschsprachigen Raum immer noch zu wenig Daten zur Screenreader-Nutzung, ist JAWS wirklich Marktführer. Sieht man sich im Vergleich dazu die Screenreader-Umfrage von WebAIM für den englischsprachigen Bereich an, fällt auf, dass JAWS auch Marktführer ist, aber NVDA als Zweitreader durchaus gängiger wird. Die Updatefreudigkeit liegt viel höher bei über 80% und sieht man sich die Nutzung von WAI-ARIA Landmarks an, liegt die fehlerhafte Nutzung nur zu 5% daran, dass der Screenreader sie nicht interpretiert. Über 40% der Nutzer wissen schlicht nicht, dass es Landmarks gibt. WebAIM summiert daraus, dass es eben eine bessere Informationspolitik dahingehend geben muss.

Ein weiteres schwieriges Terrain ist tatsächlich die Kontrastproblematik. Zwar haben wir jetzt durch das WCAG 2 eine neue Kontrastformel, sämtliche Tools testen auch schon wunderbar darauf ab. Aber – und das ist für mich wirklich das einzige wirklich spannende Ergebnis des Usability-Tests – was ist, wenn zwar alles richtig zahlentechnisch validiert, aber der Nutzer nach wie vor meldet, dass der Kontrast undeutlich oder zu schwach ist? Interessanterweise erhalte ich, wenn ich die entsprechenden Farbwerte in den Colour Contrast Check eingebe, wieder andere Werte als die in der Studie ausgewiesenen im Kontrastchecker, vor allem validieren sie nicht auf AA für normale Texte. Ein weiterer problematischer Punkt bei diesen Kontrasten ist, dass sie auf einem Verlauf liegen. Dadurch kann man gut nachvollziehen, dass Nutzer von Flimmern sprechen. Immer eine problematische Geschichte: Fliesstext auf Verläufen.

Barrierefreiheit ist alles zusammen: Theorie, Technik und Praxis.

Ein wenig schade ist, dass die Testergebnisse dann auf diese Schere zwischen Theorie und Praxis zusammengestutzt werden. Dabei fußt der Test doch auf beidem: Theorie und Praxis. Es wäre doch arg verkürzt zu sagen, wir entwickeln Webseiten aus einer, wenn auch gängigen Theorie? Ich denke, diese Schere beruht auf einem Missverständnis von Theorie. Vielleicht ist das auch das falsche Wort dafür – eher meint es so was wie etablierte Standards. Und etablierte Standards entstehen und entwickeln sich weiter aus beidem: Theorie und Praxis. Wenn uns freilich immer eher Input aus der konkreten Nutzerpraxis fehlt.

Ohne diese etablierten Standards könnten wir barrierefreie Seiten niemals professionell umsetzen. Wir müssen uns auf Standards und deren Werkzeuge verlassen können. Bei der Kontrastproblematik fehlt mir oft der ganze praktische Rahmen, also muss ich mich auf die Testwerkzeuge verlassen können. Und wir haben mittlerweile gute Standards, wir haben ein WCAG 2, das uns die Standards auch noch technisch unterfüttert, uns Werkzeuge, Best Practice liefert und uns auf Fehler aufmerksam macht. Nur auf diesem etablierten Standard können die Testergebnisse dann kritisch hinterfragt und bewertet werden. Ich bin völlig einverstanden mit der Aussage, dass sich jeder Test mit Nutzern lohnt. Aber wir sollten immer daran denken, dass sich Theorie aus Praxis und umgekehrt speist.

Insofern plädiere ich immer zuallerst für eine barrierefreie Theorie, auch wenn der Nutzer – wie im WAI-ARIA Landmark-Fall – noch nicht davon gehört hat. Ich bin Entwicklerin.

4 Antworten auf “Kurz kommentiert: Einfach-teilhaben.de im Usability-Test mit Menschen mit Behinderungen”

  1. Hey Sylvia,

    danke für deines offenes und kritisches Feedback.

    Unsere Absicht war es keineswegs eine Schere zwischen Theorie und Praxis auf zu machen, sondern gute und notwendige Theorie und best-practice-Erfahrungen mit der Praxis im konkreten Nutzungskontext mit Menschen mit Behinderungen zu konfrontieren. Zum einen ist die Erkenntnis im Feld immer eine andere und in jedem Falle bereichernd und zum anderen haben Probleme, die bei Nutzern in einem Usability-Test auftreten eine völlig andere Wirkungskraft als eine Guideline.

    Bei dem Thema Wai-Aria hast du mich missverstanden. Gerade ich bin großer Fan und Antreiber von Wai-Aria und besonders Landmarks 7 Gründe Wai-Aria Landmarks sofort einzusetzen. Man sollte sich nur nicht darauf verlassen.

    Die Veröffentlichung ist nicht speziell auf die Zielgruppe Frontend-Entwickler zugeschnitten, sondern für breitere Zielgruppen gedacht. Falls du / ihr konkrete Fragen aus Entwicklerperspektive habt, nur zu einfach fragen.

    viele Grüße
    /TIMO

  2. @Timo

    Nunja, die Zielgruppe für die Veröffentlichung von Ergebnissen ist immer die, die das grade liest und ich finde durchaus, dass die Ergebnisse für Frontend-Entwickler interessant sind. Sie müssten dafür nur noch technisch genauer zugeschnitten sein.

    Ich habe ja durchaus schon Fragen an die Ergebnisse technischer Art gestellt. 🙂

    Das mit WAI-ARIA kam schlicht schon für mich so rüber, auch wenn ich weiss, dass Du ein Fürsprecher bist. Und meine Frage war durchaus auch hier ernst gemeint, was Du damit meinst, sich nur auf WAI-ARIA zu verlassen. Im Beispiel der Landmarks würde das dann wie aussehen? Gerade Landmarks sehe ich eher als unterstützend als allein stehend oder?
    Ganz abgesehen von der Semantik von HTML 5. Das wird auch noch spannend, wie das mit den Landmarks interagieren kann.

    Das mit der angesprochenen Schere zwischen Theorie und Praxis kam für mich als letzter Punkt und Summe der Ausführungen schon so rüber, es mag sein, dass ich das überinterpretiere. Aber mit dem Hinweis noch auf die Nielsen-Aussage fand ich das schon etwas missverständlich angelegt. Aber schön, dass Du das klar stellst.

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